70 Jahre Lebens- und Paarberatung in Karlsruhe
Mit 98 Jahren starb Frau Dr. Haidinger im Oktober 2019. Sie war 51 Jahre lang die 1. Vorsitzende unseres Trägerverins. privat
Der Küchentisch stand bei Dr. Alice Haidinger, Rechtsanwältin und vor kurzem aus Hamburg nach Karlsruhe gezogen.
Schmutzige Wäsche im Gerichtssaal
Bis 1977 mussten Ehepaare nachweisen, wer schuld an der Scheidung war. Es ist leicht vorstellbar, welche gegenseitigen Entwertungen und Erniedrigungen im Gerichtssaal hin und her flogen. Vor der Verhandlung mussten Juristen mit den Zerstrittenen einen Sühneversuch durchführen. Alice Haidingers Mann, damals Landgerichtsdirektor in Hamburg, erkannte bald, dass Richter und insbesondere Referendare dazu nicht geeignet waren. Er fand stattdessen bei einer Beratungsstelle psychologisch ausgebildete Fachleute. Nachdem er Bundesrichter wurde, brachten beide diese Erfahrung mit nach Karlsruhe.
Dr. Lotte Paepcke - erste Beraterin in Karlsruhe
Dr. Alice Heidinger war eine Enthusiastin. Gemeinsam mit Dr. Lotte Paepcke und anderen Frauen verfolgte sie die Idee einer Beratungsstelle für Paare in Krisen. Und diese gab es genügend. Heimkehrende Kriegssoldaten trafen auf Trümmerfrauen und Kinder, die ihnen fremd geworden waren oder die sie sogar zum ersten Mal sahen. Traumatische Erfahrungen hatten die Fähigkeit zu vertrauen nachhaltig gestört, unerfüllte Sehnsüchte trafen auf die harte Realität der Nachkriegszeit. Der Neubeginn war kein Selbstläufer.
Dr. Lotte Paepcke, Verfolgte des Naziregimes, Journalistin und Autorin war die erste Beraterin.
Woher kommt das Geld?
Dr. Alice Haidinger wollte dieses Engagement absichern. Viele Bettelbriefe wurden geschrieben und Kontakte genutzt. Am 28. April 1953 wurde die Satzung der "Arbeitsgemeinschaft zur Förderung einer Vertrauensstelle für Verlobte und Eheleute in Karlsruhe" verabschiedet, einen Tag später als Verein Nr. 46 in das Vereinsregister eingetragen. Gründungsmitglieder waren die Stadt und der Landkreis Karlsruhe, die Innere Mission (heute Diakonie), die überparteiliche Frauengruppe, der Hausfrauenbund, das evangelische Frauenwerk und der Club berufstätiger Frauen in Karlsruhe (heute BPW). Sie verpflichteten sich gemeinsam die Beratungsarbeit finanziell zu tragen.
Inzwischen ist die katholische Kirche mit 37,1% des Haushalts die größte Geldgeberin, gefolgt von 19,9% evangelischen Zuschüssen. Die Ratsuchenden selbst beteiligen sich über einen, nach Haushaltsgröße und -einkommen gestaffelten Kostenbeitrag mit 19,1%. Die Stadt Karlsruhe übernimmt 17,5% und der Landkreis Karlsruhe 5% der Kosten.Gemeinsam bilden sie den Trägerverein.
Bescheidener Beginn - stetiger Ausbau
1956 wurde Renate Schulze als erste Geschäftsführerin und Leiterin der Stelle eingestellt. "Wir fanden einen bescheidenen eigenen Raum mit Wartezimmer (Blumenstr. 11, zwei kleine Zimmer mit Ofenheizung und Möbeln vom Sozialamt)" so Frau Dr. Haidinger in einem Interview mit Andreas Klaas. Eine finanzielle Förderung erhielt die Stelle durch die Erstellung von Volljährigkeitsgutachten. Paare unter 21 Jahren durften nur heiraten, wenn das Vormundschaftsgericht seine Zustimmung gab. Das Gericht forderte Gutachten der Vertrauensstelle an. Der Original-Fragebogen zur Ehemündigkeit ist noch erhalten (siehe Textbox).
Eine weitere Tätigkeit waren ab 1957 "Verlobtenkurse", die über 6-8 Abende, teilweise auch an einem Wochenende gingen und sehr gut angenommen wurden.
Ab 1969, mit Umzug in die Beratungsräume in die Werderstraße 63, boten die Berater*innen neben Einzel- und Paarberatung auch Gruppenberatung an. 1971 erfolgte der nächste Umzug in die Nelkenstr. 17 in Räume der kath. Kirche. Damit verbunden war eine weitere Aufstockung des Teams. Bis heute liegt die Ehe-, Familien- und Partnerschaftsberatung Karlsruhe, wie unsere Stelle seit 1993 heißt, in der Weststadt.
Paarthemen = Gesellschaftsthemen
Die gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland spiegeln sich auch in den Themen der Paare wider. Zunächst waren es hauptsächlich Frauen, die kamen. Männer "lieferten ihre Frau zur Reparatur ab" oder kamen "als Mitgebrachte". Das Wirtschaftswunder und der beginnende Wohlstand verringerten finanzielle Streitigkeiten. Die sogenannte "Mussehe" (Schwangerschaft) und "Mischehe" (konfessionsverschiedene Paare) sind Begriffe und damit verbunden Problemstellungen bis in die 70er Jahre hinein. Die Möglichkeit der Empfängnisverhütung und die Emanzipation der Frau (1975 Internationales Jahr der Frau) bewirkte langsam die Auflösung klassischer Rollenverteilung und den Wunsch nach Gleichberechtigung. In unterschiedlicher Weise ist die Vereinbarkeit von Beruf, Familie (und Zeit für sich) bis heute Thema. In den 80er Jahren nahmen Sinnfragen zu.
In 70 Jahren Beratungstätigkeit wurden 80.000 Menschen beraten und 213.000 Beratungsstunden erbracht.
Die Ehe-, Familien- und Partnerschaftsberatung Karlsruhe e.V. begleitet Paare und Einzelpersonen in Lebens- und Beziehungskrisen. Die sexuelle Orientierung/Identität spielt dabei keine Rolle, ebenso wenig die Nationalität oder Religionszugehörigkeit. In sechs verschiedenen Sprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Chinesisch und Deutsch) werden Gespräche angeboten. Ein weiterer Schwerpunkt sind Seminare und thematische Abende.
Laut Statistik 2022 verteilen sich die Anlässe für eine Beratung wie folgt:
67,4% Probleme in Ehe- und Partnerschaft
14,8% Probleme im Familiensystem
18,4% Probleme der besonderen Lebensumstände/-erfahrungen
12,3% Probleme mit eigener Gesundheit / Erleben / Verhalten
5,0% Spezifische Gründe/Themen
1,5% Probleme in der Erziehung
0,4% Probleme mit/in der Entwicklung
0,4% Probleme mit / in Sozialisationsinstanzen
Nach siebzig Jahren ist die Ehe-, Familien- und Partnerschaftsberatung Karlsruhe e.V. in der Nelkenstrasse 17 eine feste Institution in Karlsruhe. Aktuell beraten 15 Fachleute, unterstützt von 2 Teamassistentinnen. 2022 begleitete das Team 1.772 Menschen aus der Stadt und dem Großraum Karlsruhe in 5.092 Beratungsstunden.