Großer Bruder - kleine Schwester
In der Psychologie herrscht seit der Gründerzeit rund um Sigmund Freud ein Schwerpunkt auf der vertikalen Perspektive in der Generationenfolge - Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel …
Wenn es um die Frage der Prägung geht, schauen wir gewohnheitsmäßig auf die Eltern-Kind-Beziehung, da ja die Eltern die maßgeblich Erziehungsverantwortlichen sind. Doch hält dieses Bild wirklich einer genaueren Überprüfung stand. Ist diese Perspektive in Ihrer Ausschließlichkeit nicht vielleicht zu eindimensional?
Der Mensch, als soziales Gruppenwesen, lernt sich im Miteinander zu orientieren, indem er ständig Beziehungserfahrungen macht. Jede dieser Erfahrungen kann seinen prägenden Stempel auf unser Leben hinterlassen - abhängig von Dauer, Intensität und Bedeutung des Kontakts.
In diesem Artikel möchte ich mit Ihnen den Blick auf die Dimension der Geschwisterbeziehung lenken. Dazu möchte ich zunächst ein paar Grundaussagen zur Beschreibung von Geschwisterbeziehungen an den Anfang stellen:
- 75% der Kinder in Deutschland wachsen mit einem Geschwisterkind auf.
- Längste und (meist) dauerhafteste Beziehung unseres Lebens (80% der 70-85ig jährigen haben ein Geschwister, aber nur 45% eine_n Ehepartner_in).
- Geschwisterbeziehungen haben etwas schicksalhaftes, weil man sie sich nicht aussuchen kann
Geschwisterbeziehungen können nicht beendet werden, auch bei Kontaktabbruch dauern sie (wirkmächtig) an. - Geschwisterbeziehungen haben ungeschriebene Verpflichtungsanteile, z.B. zu Solidarität und Hilfe
Typisch für viele Geschwisterbeziehungen ist eine (oftmals nicht eingestandene) emotionale Ambivalenz zwischen Liebe und Abneigung. - Je besser sich ein Kind mit seinen Geschwistern versteht, desto wohler fühlt es sich in seiner Familie.
Lange gab es in Bezug auf Geschwistertheorien den Ansatz vom typischen Erstgeborenen, dem Jüngsten, dem Sandwichkind etc. und den dazugehörigen Charakterzuschreibungen sowie in Kombination dazu, dezidierten Geschlechterrollen. Die neuere Forschung hat sich mittlerweile völlig von diesem Bild verabschiedet, da es in mehreren Studien keine nachweisbare Signifikanz diesbezüglich gab.
Man geht heute davon aus, dass es individuelle Bedingungen in den jeweiligen Familiensystemen durch Bedeutungszuweisung und Beziehungsdynamiken und sozial-kulturelle Kontextbedingungen sind, die entscheiden über die Ausbildung von Prägungen in den Geschwisterbeziehungen. Nicht jedes Älteste ist also… und nicht jedes Jüngste ist …. Man muss individuell auf die Bedingungen des So-Geworden-Weins schauen.
Haben Sie sich schon mal gefragt, welchen Einfluss Ihre Geschwister in Ihrem Wesen und Leben genommen haben. Oder bei Einzelkindern: Welchen Einfluss hatte es, dass es eben gerade kein Geschwister gab?
Wenn Sie wollen, nehmen Sie sich einen Moment Zeit und beantworten für sich folgende Fragen:
- Wie habe ich mich in der Geschwisterkonstellation meiner Familie (oder als Einzelkind) gefühlt?
- Was habe ich bekommen, was habe ich vermisst?
- Wodurch waren die Beziehungen zu meinen Geschwistern gekennzeichnet? (bzw. Wie hat es meine Kindrolle geprägt alleine zu sein?
- Wie haben meine Geschwister mein Leben beeinflusst, z.B. Berufs-, Partnerwahl, Lebensentwürfe, Wertesysteme? (bzw. Wie das Nicht-Haben von Geschwistern?)
Zum Schluss möchte ich Sie einladen mit Ihren Gedanken nicht alleine zu bleiben. Wie wäre es diese Fragen gemeinsam mit Ihren Geschwistern zu beleuchten und sich von der Unterschiedlichkeit der Aussagen berühren zu lassen. In der Beratung hören wir immer wieder den Satz: "Das habe ich meine Geschwister bisher noch nie gefragt, irgendwie scheue ich mich auch davor." Seien Sie mutig, denn vielleicht gibt es Spannendes zu erfahren…
Thomas Rüttgers
Buchempfehlung:
Hans Sohni, Geschwisterdynamik, Psychosozialverlag 2011, ISBN-10 3837921174