Die Geschichte vom verlorenen Schal
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Oh, wie falsch ich lag! Irgendwo zwischen meiner Haustüre und dem Parkplatz der Firma hatte ich dich verloren. Innerlich war ich zerrissen zwischen "Sofort umdrehen, um zu suchen." (Die Verspätung ist mir egal) oder "Resignation" (Bestimmt hat dich jemand schon gesehen und mitgenommen). Meine Entscheidung war schnell klar. "Du bist mein Lieblingsschal, so einen wie dich kriege ich nicht wieder. Ich will dich zurück!"
So stieg ich wieder aufs Rad und fuhr den ganzen Weg zurück. Aufmerksam wie nie schaute ich nach rechts und links. In der Ferne habe ich dich erspäht. Du lagst auf dem Boden, ganz unauffällig, einfach da. Neben dir eine Frau mit einem Hund. Sie hatte dich schon beäugt und bemerkt, dass du etwas Besonderes bist. Sie wollte dich hochnehmen. Schnell schrie ich: "Mein Schal, mein Schal!" Damit die Frau mit dem Hund weiß: Du gehörst zu mir, ich kenne dich viel länger als sie! Als die Frau mit dem Hund weiterging, war meine Freude riesengroß. Ich hatte dich wieder, alles andere war unwichtig, wir waren zusammen.
Nach der Freude kam die Ernüchterung. Es war nicht wie vorher. Du warst mir gegenüber ziemlich verhalten, hast dich nicht mehr eng an meinem Hals geschmiegt. Laut hast du dich nicht beschwert, aber ich habe es erkannt: Du warst verletzt. Ich hatte dich unterwegs fallen lassen und ich habe es ziemlich spät gemerkt. Du lagst eine Weile allein auf den Boden. Deine Ressentiments habe ich gespürt, deinen Vorwurf. "War ich dir nicht wichtig genug?" schientest du wortlos zu fragen. "Die Frau mit dem Hund sah auch nett aus. Ich glaube, sie würde mich nicht einfach verlieren, wie du es getan hast."
Ich habe den Druck gespürt. Ich sollte dich besser behandeln, aufmerksamer sein, aber wie?
So kaufte ich ein teures Pflegemittel, damit du geschmeidig bleibst. Ich habe versucht, dich nur für schöne Gelegenheiten zu holen (zum Essen gehen, aber nicht für das Wandern; beim Spaziergang, aber nicht zum Joggen). Alles, um dir zu zeigen, wie wertvoll du für mich bist. Vor lauter Fürsorge und Pflege wurde ich anders, verhaltener. Da hast du dich beschwert: Ich sei anders als früher, nicht so spontan. Das hat mich geärgert. Ich hatte alles dafür getan, dass du mich wieder magst. Ich will nicht, dass du an die Frau mit dem Hund denkst. Es wurde ziemlich verkorkst zwischen uns.
Eine Freundin sagte: Wieso machst du dir so viele Sorgen? Du weißt doch, es gibt andere, wunderschöne Schals, die an deinem Hals Freude finden könnten. Ich muss zugeben, ab und zu habe ich daran gedacht … Es wäre aufregend, durch die Läden zu ziehen und Schals zu probieren. Und dann wieder kamen die Zweifel. Würde ich wieder einen Schal finden, der zu mir passt? Und will ich das überhaupt?
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Ich war es gewöhnt, eng an deinem Hals sein zu dürfen. Zugegeben, ich hatte mir es bequem gemacht und hatte mich sehr sicher gefühlt. Seit unserem ersten Treffen waren wir unzertrennlich. Du und ich, immer zusammen. Aber im letzten Frühling gab es erste, kleine Zeichen der Verunsicherung, kleine Veränderungen. Manchmal hast du mich nicht um deinen Hals gelegt. Nur in die Hand genommen, zur Sicherheit - wenn es kalt würde. Jeder Windhauch erfreute mein Herz, dann brauchtest Du meine Nähe. Und ich spürte: Ja, hier gehöre ich hin.
Im Sommer wurde es noch schwerer. Du hast mich oft zuhause gelassen, und wenn ich mitkam, nur in einer Tüte. Von der Garderobe aus musste ich zusehen, wie du so anders warst: in T-Shirt und kurzen Hosen gekleidet, mit einem Sonnenhut in der Hand. Ich habe dich nicht wieder erkannt. Wer bist du? Dies waren traurige Tage. In meiner Fantasie stellte ich mir vor, wie du mich aus der Tüte holst, an deinem Hals schmeißt und jemand kommentiert, wie schön und warm ich bin, was für eine außergewöhnliche Farbe ich habe. Triumphierend blickte ich dann in deine Augen, stolz darauf, was Andere in mir sehen konnten.
Als du dann neulich ungewollt mit dem Fahrrad gestolpert bist und ich runterfiel (dieses Mal gab es keine schützende Tüte), habe ich mich fast gefreut. Ich sah dich weiterfahren, schreien konnte ich nicht - schließlich bin ich ein Schal - und seltsamerweise fühlte ich mich leicht und frei. Ich wusste, ich liege am Boden auf der Straße und das könnte für einen Schal wie mich gefährlich sein, aber gleichzeitig war es sehr aufregend. Zum ersten Mal seit langem war dein Hals nicht mein "Ein und Alles". Du warst weg und vom Boden aus sieht die Welt anders aus.
Es dauerte nicht lange und von ferne kamen zwei Figuren auf mich zu. Ich wusste, die Frau hatte echt Interesse an mir und ihr Hals sah nicht schlecht aus. Wie wäre es, daran zu liegen, zu wärmen, mich wohlzufühlen? Wird dieser Hals anders sein? Anders riechen, kälter oder wärmer sein? Würde sie mich daheim mit stinkenden Socken in die Waschmaschine werfen oder lieber sorgfältig von Hand waschen, was schon immer mein Traum ist? Ich sah schon, wie sie mich hochnahm und einpackte, da hörte ich deine Stimme "Mein Schal, mein Schal!"
Schulderfüllt standest du vor mir, das tat richtig gut. So konnte ich dich einfach verantwortlich für den ganzen Schlamassel machen, denn du hattest mich fallen lassen. Ich habe dich spüren lassen, dass es nicht schön war. Aber … ich habe dir nie erzählt, wie aufregend es war, durch die Luft zu fliegen, den Wind zu spüren … ich wusste gar nicht, dass ich fliegen konnte. Im Grunde hatte ich mich ein bisschen gefreut, verloren gegangen zu sein. Alles war plötzlich möglich, ich war wieder begehrenswert, habe mich selbst neu erlebt.
Als du vor mir standest, reuevoll, merkte ich wie durch die Ereignisse unsere Rollen getauscht worden waren. Nun warst du unsicher, froh mich zu sehen und gleichzeitig schuldbewusst. Ich war in der besseren Position, konnte mich rächen für die Zeit der Unaufmerksamkeit, etwas zickig sein, auch nachtragend - wie ein langer Schal. So leben wir seither zusammen. Ich weiß, das kann nicht lange gut gehen, es ist keine liebevolle Basis für unsere Begegnungen. Der Winter steht vor der Tür, wer weiß wie kalt es sein wird. Wir werden die Nähe zueinander wieder brauchen, aber wie? Du und ich, wir müssen neue Wege finden ...
Valeria Madrid