Übergänge
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Weil wir mit dem Fremden, das bei uns eingetreten ist, allein sind, weil uns alles Vertraute und Gewohnte für einen Augenblick fortgenommen ist; weil wir mitten in einem Übergang stehen, wo wir nicht stehen bleiben können." (Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, Insel-Bücherei Nr. 406, 1929)
Übergänge prägen unser Leben stärker als Zeiten der Kontinuität. In der Erinnerung nehmen sie einen besonderen Platz ein. In diesen Tagen und Wochen änderten sich nicht nur äußere Umstände. Es kamen andere, vielleicht bisher unbekannte Facetten unserer Persönlichkeit zum Vorschein.
Viele Übergänge sind persönlicher Natur: Schulwechsel, Schulabschluss, Ausbildung oder Studium, neuer Arbeitsplatz, Verlieben, Geburt eines Kindes, Heirat, Krise oder Trennung, Pubertät der Kinder oder Wechseljahre, Pflege und Sorge um die Eltern, Krankheit oder Abschiede durch Tod.
Doch gerade in den vergangenen Jahren und aktuell erleben wir auch gesellschaftliche Übergänge, Stichwort "Zeitenwende". Ereignisse, die wir selbst nicht in Gang gesetzt haben oder nur indirekt beteiligt waren, veränderten und verändern unser Leben: Lockdown, Homeschooling, Klimawandel, Energiewende, Digitalisierung, neue Sicherheitspolitik …
Übergänge verunsichern
Dies liegt in der Natur der Sache. Selbst wenn Übergänge mit positiven Erwartungen verknüpft sind, fordern sie auf Bekanntes und Vertrautes loszulassen. Neue Informationen strömen auf uns ein, unsere Rolle wird in Frage gestellt. Wir sehen zunächst kein sicheres Land, sondern surfen auf mehr oder weniger stürmischen Wellen. Von außen gesehen ist der Wechsel möglicherweise einfach, klar und unspektakulär. Psychodynamisch, bis unsere Seele und unser Geist nachkommen, braucht es länger.
Die Bewältigung neuer Herausforderungen hängt davon ab, inwieweit die Veränderung aufgezwungen wurde oder mit eigener Einsicht und Zustimmung verbunden war. In der Regel sind selbstbestimmte Prozesse leichter zu gestalten. Dies gilt auch für Wachstumsprozesse, die wir als normale Vorgänge des Lebens annehmen können.
Manchmal steht zu Beginn ein Widerstand, der Übergang wird mit Zwang verbunden und wir erkennen erst nach und nach auch positive Aspekte. Der erste Schritt ist daher weniger die praktische Gestaltung des Neuen, sondern die grundsätzliche Akzeptanz der sich verändernden Situation. Die Psychologie spricht in diesem Fall von der Entwicklung einer "Ambiguitätstoleranz". Darunter wird die Fähigkeit verstanden, auch Widersprüchliches aushalten zu können, positive und negative Faktoren wahrnehmen zu können, ohne dass Stress zu Eskalation führt. Negative Seiten werden in Kauf genommen, positive Entwicklungen gewürdigt. Eine gute Ambiguitätstoleranz erhöht allgemein die Lebenszufriedenheit. Übergänge werden als notwendige Reifungsschritte gesehen, die dem Leben immanent sind.
Was kann helfen, damit Übergänge gelingen?
- Sich mit kommenden Veränderungen beschäftigen, soweit sie absehbar sind, Alternativen überlegen.
- Ambivalenz und Unsicherheit zulassen.
- Sich an frühere Übergänge (besonders an Gelungene!) erinnern.
- Mit Menschen, die ähnliche Herausforderungen erleben oder erlebt haben, das Gespräch suchen.
- Sich in die bessere Zeit, die kommen mag, hineinträumen.
- Mit Ungleichzeitigkeit bei den Beteiligten rechnen, Zeit und Raum für individuelle Schritte einräumen.
- Mit "Dünnhäutigkeit" bei anderen und mir rechnen, Worte nicht auf die Goldwaage legen.
- Beruhigendes einplanen.
- Kraftquellen suchen und finden.
- Neugierig die neue Situation erkunden.
- Das Positive mit kleinen oder größeren Festen feiern, das Traurige beweinen.
- Im Gestalten des neuen Abschnittes die eigene Wirksamkeit (wieder)erleben, lebendig sein.
Weil Übergänge zu unserem Leben dazugehören, ist unsere Seele darauf vorbereitet. Grundsätzlich verfügen wir über die Fähigkeiten, die wir brauchen - wir müssen sie nur entstauben und einüben.