Lieben
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"Als William Stoner sehr jung war, hatte er die Liebe für einen vollkommenen Seinszustand gehalten, zu dem Zugang fand, wer Glück hatte. Als er erwachsen wurde, sagte er sich, die Liebe sei der Himmel einer falschen Religion, dem man mit belustigter Ungläubigkeit, vage vertrauter Verachtung und verlegener Sehnsucht entgegensehen sollte. Nun begann er zu begreifen, dass die Liebe weder Gnade noch Illusion war; vielmehr hielt er sie für einen Akt der Menschwerdung, einen Zustand, den wir erschaffen und dem wir uns anpassen von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick durch Willenskraft, Klugheit und Herzensgüte." (John Williams: Liebe lernen, aus Ders.: Stoner, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co KG, Übersetzung Bernhard Robben)
Liebe bleibt, wenn sie sich verändern darf
Nach dem Autor John Williams wandelt sich über die Jahre das innere Bild der Liebe. Erleben wir sie frisch verliebt als "etwas, das mir passiert ist - wow", so weiß die erwachsene Liebe, dass sie ihre Lebendigkeit der Gestaltung und nicht der Passivität verdankt. Gestaltung bedeutet mehr als ein Blumenstrauß oder die WhatsApp-Nachricht in der Mittagspause. In den Auseinandersetzungen, im Wechsel von Nähe und Autonomie, im Schwach- und Starksein, in existenziellen Momenten die/den Andere*n suchen und finden. Das nennt der Protagonist Stoner "Menschwerdung".
Wir werden nicht bessere Menschen auf diesem Weg. Im Gegenteil. Unsere eigenen Schwächen, die anstrengenden Seiten des/der Anderen lassen sich mit der Zeit immer weniger verstecken. Die idealisierte Projektionsfläche, die wir zu Beginn füreinander sind, wird dünner.
Wie kann die Liebe trotzdem weiterbestehen, vielleicht sich sogar vertiefen?
Wenn sie von einem Gefühl zu einer inneren Haltung wird. Hilfreich sind Austausch, Bereitschaft zum Vertrauen und ein ehrliches Bemühen um gute Kompromisse. Das liest sich nicht sehr romantisch, aber so entsteht eine gemeinsame gute Geschichte, die tragen kann. Wir können erleben, dass Liebe keine Perfektion voraussetzt. Diese überraschende Erfahrung kann befreien und uns staunen lassen. "Willenskraft, Klugheit und Herzensgüte", schreibt John Williams - hilfreiche Geister beim Lieben(lernen).